Archiv für den Monat: April 2018

CIO Jahrbuch 2018: Startup-Kultur in Unternehmen

Dieser Artikel ist die Abschlussarbeit zum CIO Leadership Excellence Program der WHU – Otto Beisheim School of Management und ist im CIO Jahrbuch 2018 erscheinen. Diese Abschlussarbeiten haben stets die Form einer Wette:  

Etablierte Unternehmen brauchen Startups  

Ich wette, dass in 5 Jahren Unternehmen ohne Startup-Kultur in der Bedeutungslosigkeit verschwinden werden. 

Die Digitalisierung verändert Marktstrukturen nachhaltig – Disruption. Der Innovationsbedarf der Unternehmen ist immens, wenn sie nicht vom Markt verschwinden oder in eine Nische gedrängt werden wollen. Die Innovationsfähigkeit aber ist insbesondere durch die Verfügbarkeit von Mitarbeitern mit den nötigen technischen Fähigkeiten und frischen Ideen als auch durch die althergebrachte Unternehmenskultur begrenzt. Startup-Initiativen sind notwendig, um sowohl die technische und kommerzielle Basis zu schaffen als auch einen Wandel der Kultur zu bewirken. Innovationen, die nur Bestehendes weiter optimieren, sind nicht groß genug gedacht: Die Struktur der Märkte wird durch völlig neue digitale Angebote verändert – eine massive Bedrohung aber auch Chance für bestehende Unternehmen. 

Ist das wirklich nötig? 

Ist es wirklich nötig, den vielen Artikeln zur Digitalisierung einen weiteren hinzuzufügen? Insbesondere in den IT-Abteilungen erntet man mit dem Wort oft genervtes Augenrollen – „Nicht schon wieder…“. Und genau deshalb! Wäre ich Raucher, würde es mich auch nerven, ständig zu hören, wie schlecht Rauchen ist. Und trotzdem wäre es sinnvoll, mich so lange damit zu belästigen, bis ich endlich aufhöre.  

In diesem Sinne soll dieser Artikel einen Anstoß geben, nun endlich groß zu denken und all die umfassenden Maßnahmen einzuleiten, die einige Unternehmen bereits angegangen sind. Und er soll noch einmal herausstellen, dass Digitalisierung nicht etwas ist, was die IT ja schon seit langem macht – nur vielleicht mit neueren Werkzeugen und anderen Endgeräten. Digitalisierung ist nicht die Einführung eines Intranets oder die Optimierung interner Prozesse. Auch das Entwickeln einer App, die das Produktsortiment eines Werkzeugherstellers anzeigt, ist hier nicht gemeint. Wenn in dieser App allerdings das Verleihen der Werkzeuge zwischen Handwerkern ermöglicht wird – dann kommen wir der Sache schon näher… 

Kurz ein paar Fakten 

Es gibt Gewinner und Verlierer. Gewonnen haben Spotify, Paypal, AirBnB. Nicht so gut lief es für Nokia, Brockhaus, Kodak. Eine direkte Gegenüberstellung macht die Dynamik deutlich: 2004 dominierten Quelle und Neckermann bei einem europäischen Gesamtumsatz von 7,5 Mrd. EUR den Versandhandel in Deutschland mit über 30% Marktanteil, während Amazon zu diesem Zeitpunkt in Deutschland, Großbritannien, Frankreich und Japan bei 3 Mrd. Dollar Umsatz lag. 8 Jahre später ging Neckermann.de in die Insolvenz und Amazons Deutschlandumsatz war schon auf 9 Mrd. Dollar gewachsen und lag 2016 weltweit bei 140 Mrd. Dollar. In dieser Zeit hat sich Amazon vom Online-Buchhändler zum zentralen digitalen Ecosystem gewandelt – und greift heute auf völlig anderen Märkten an: Auge in Auge mit Netflix wird Fernsehen neu definiert. 

Es beginnt mit Technik… 

Die Informationstechnologie bietet heute so mächtige Werkzeuge, dass ihr Einsatz vorhandene Marktstrukturen zerstört. Daher auch der Begriff Disruption – Zerreißen.  

Die Beherrschung dieser Werkzeuge ist prinzipiell nicht übermäßig kompliziert, was die Menge an Startups und die Anzahl an Apps in den jeweiligen App-Stores zeigt. Anders als zu Beginn des Internet-Zeitalters sind die Markteintrittshürden durch Cloud-Computing radikal niedriger und die Wachstumsphase durch die praktisch vollständige, jederzeitige Erreichbarkeit der Zielgruppe und Netzwerkeffekte rasant beschleunigt (2016: 80% Internetnutzer in Deutschland, davon 80% per Handy/Smartphone, 3,4 Mrd. Internetnutzer weltweit, davon 2,3 Mrd. in sozialen Netzwerken). Drei Personen können ausreichen, um als Startup einen Markt aufzurollen: Ein Industriekenner, ein Techie und ein Entwickler von digitalen Geschäftsmodellen.  

…und endet beim Kunden 

Gelingt es einem Startup, einen bislang unerreichten Kundennutzen zu schaffen, kann es den vorhandenen Markt radikal ändern. Es kann innerhalb kürzester Zeit riesige Nutzerzahlen erreichen, und damit mehr über die Kunden und deren Bedürfnisse erfahren. Mit Big Data und künstlicher Intelligenz kann es das Angebot weiter optimieren und insb. für die Kunden individualisieren, um eine dominierende Stellung zu erreichen. Hat sich das Startup durchgesetzt, ist diese Marktposition schwer anzugreifen, da mit jedem Tag das Wissen über die Kundenbedürfnisse tiefer wird und unmittelbar in den Service/das Produkt einfließen kann.  

Darüber hinaus kann das Startup seine Kundenschnittstelle, seine datenbasierten Kenntnisse über die Kunden und seine Reichweite einsetzen, um in angrenzende bzw. völlig neue Märkte einzudringen. Das erklärt sicher auch einen Teil der aktuellen Bewertung von uber in Höhe von 70 Mrd. Dollar trotz eines Verlustes von 2 Mrd. Dollar in 2016 – nicht schlecht für ein 8 Jahre altes Unternehmen. Für einen Großteil des Verlustes sind die Subventionen an die Fahrer verantwortlich, damit diese für uber fahren und nicht z. B. für Lyft. Denkt man an uber als die Kundenschnittstelle für eine autonom fahrende Autoflotte erkennt man den Reiz: Wer zuerst kommt, mahlt zuerst. 

Ob die Erwartungen, die solchen Bewertungen zugrunde liegen, aufgehen oder ob sich nicht ein anderer großer Player vor uber schieben wird, liegt natürlich im Dunkeln. Klar ist allerdings, dass der Markt für Personenbeförderung in den Industrieländern (uber ist in 76 Ländern aktiv) radikal umgekrempelt ist. Auch wenn einzelne regionale Märkte noch gesetzlich geschützt sind, ist es vermutlich nur eine Frage der Zeit ist, wie lange die Bürger sich ein zumindest vermeintlich besseres Angebot vorenthalten lassen. 

Was macht die Startups so schnell und erfolgreich?  

Im Kern ist es vermutlich der unbändige Wille zum ganz großen Erfolg verbunden mit einer intelligenten Herangehensweise: Im Pitch erklären die meist jungen Gründer in 5 Minuten, warum sie ein bedeutendes Problem der Menschheit lösen – das ist sehr, manchmal erstaunlich, selbstbewusst. Aber es geht immer um das Große und nur durch den Fokus auf das Große erreicht man auch Großes. Diese Kraft wird gleichsam durch eine bedächtige Vorgehensweise kanalisiert: Die Kundenbedürfnisse als Ausgangspunkt werden zuerst verstanden, dann werden Hypothesen aufgestellt, wie sie befriedigt werden könnten. Diese fließen in ein erstes, einfaches Produkt ein, um es dann möglichst schnell mit ersten Kunden zu testen. Passt es nicht, wird es geändert, sonst wird auf Basis der datengetriebenen Kundenbeobachtung weiter ausgearbeitet – und wieder schnell getestet und so weiter. Dieses Vorgehen sichert Kundennutzen und reduziert die Kosten von Fehlentwicklung. Fehler sind hierbei willkommen, zeigen sie doch, an welcher Stelle das Produkt/die Dienstleistung besser werden kann. Stichworte sind: Lean Startup, Design Thinking, Agilität, Minimum Viable Product. 

Dazu braucht das Startup und die Menschen im Startup Unabhängigkeit. Sie machen Fehler, sie lernen, sie haben Raum und Zeit für Kreativität, sie bearbeiten Probleme intensiv ohne Hierarchie oder Abteilungsgrenzen miteinander. Das fordert allerdings auch von den Menschen: die nötige Fähigkeit, auf diese Weise zu arbeiten, und von den Führungskräfte konkreten Nutzen durch das Schaffen dieses Umfeldes und der individuellen Förderung der Fähigkeiten der Menschen zu stiften. 

Wenn hier eigentlich allgemein von Innovation die Rede sein sollte, wie kommt es, dass jetzt praktisch nur von Digitalisierung die Rede ist? Weil zu erwarten ist, dass Software in fast allen Produkten und Dienstleistungen einen oder den entscheidenden Produktionsfaktor ausmachen wird: Sei es Software für das autonome Fahren, die Ladesteuerung von Batterien, 3D-Druck Krebsbekämpfung, Essensbringdienste. Software ist heute das universelle und bedeutendste Werkzeug, so wie der Stein in der Steinzeit.  

Wenn Software das universelle Werkzeug ist, ist Programmierung ihre Anwendung und Startup-Kultur ihr Erfolgsfaktor. General Electric lässt alle neuen Mitarbeiter Programmierkurse durchlaufen – unabhängig vom fachlichen Einsatzgebiet. Daimler will 20% der Mitarbeiter in einer Schwarm-Organisation, vernetzten Teams außerhalb einer Hierarchie, arbeiten lassen.  

Seitenumbruch 

Also jetzt handeln 

Das geht also auch in Deutschland. Das Insurtech Clark, das alle Versicherungen des Kunden in einer App auf dem Smartphone zusammenfasst und das Portfolio gemäß der Kundenbedürfnisse per Robo-Advisor und künftig sicherlich auch per künstlicher Intelligenz optimieren will, hat es innerhalb von weniger als 80 Tagen von der Idee bis zum ersten Kunden in der App geschafft – gemeinsam mit anderen ähnlichen Insurtechs ein klarer Angriff auf die nicht-digitalisierten Versicherungsmakler. 

Wie können auch mittelständische Unternehmen und Konzerne so eine Geschwindigkeit erzielen und potenziell disruptive Innovationen schaffen? Es gibt sicherlich für jedes einzelne Unternehmen eine optimale Strategie, die man durch intensives Nachdenken erarbeiten könnte. Vielleicht kann man es aber auch so machen, wie die Digitalisierer im Silicon Valley: Vorhandene Tools und Vorgehensweisen, die sich als erfolgreich herausgestellt haben, identifizieren, selber ausprobieren und anpassen – einfach machen! 

…und zwar richtig 

Wenn wir vom Kunden her denken, seine Probleme und Bedürfnisse kennen, können wir die vorhandenen Marktspielregeln umgehen oder außer Kraft setzen oder einen ganz neuen Markt schaffen. Das wird nicht in einem einzigen Schritt zu schaffen sein, aber die die Vision sollte formuliert sein. Einige VCs im Silicon Valley investieren nur in Startups, die die Fantasie geben, eine Bewertung von 1 Mrd. Dollar zu erreichen – erst dann ändern sie wirklich Märkte! Die Motivation für die Unternehmen: Wenn sie es nicht selbst tun, wird es jemand anders machen. Also: Keine graduellen Verbesserungen von Bestehendem oder leichte Abwandlungen – hier sind echte Game Changer nötig. 

Im Alleingang wird nicht jedes Unternehmen den Markt ändern können, aber es kann ihn gestalten: Durch den Bau von Netzwerken – Ecosysteme von Partnern auf einer technischen und kommerziellen Plattform, die das Unternehmen entwickelt und betreibt. Oder es beteiligt sich aktiv in einem bestehenden Ecosystem, zumindest im ersten Schritt. Klar, dass das Unternehmen hier auch etwas beitragen zum Erfolg der anderen Teilnehmer beiträgt – es muss sich öffnen, macht sich angreifbar. Die Gefahr aber, allein und ohne Partner abgehängt zu werden, ist weitaus größer.  

Die ganz Mutigen stellen das Unternehmen selbst in Frage: Kill the company! Warum auf den Disruptor warten, wenn man es selbst sein kann? Früher oder später wird jeder Markt, wird jedes Unternehmen an die Reihe kommen – da ist es besser, man führt die Entwicklung an. Das ist natürlich eine besondere Herausforderung an Kommunikation, Führung und Zusammenarbeit im Unternehmen. 

Kann Ihr Unternehmen das auch? 

Ja, bestimmt! Nur vermutlich nicht auf die bisherige Weise – sonst wären Sie ja bereits ein Disruptor. Verbinden Sie sich mit Startups: Gründen Sie sie, ziehen Sie sie auf, beteiligen Sie sich, kaufen Sie sie. Zu gewinnen gibt es technische Kompetenz, frisches Denken, die nötige Outside-In-Sicht und ein gutes Stück Killerinstinkt. Und viele grandiose Ideen, die im etablierten Unternehmen verworfen oder nicht einmal erdacht worden wären.  

Diese Startup-Kultur muss auch wieder auf das Mutterunternehmen zurückwirken. Denn die Vorgehensweisen, die Startups erfolgreich machen, machen auch große Unternehmen erfolgreich: Kundenorientierung, Zusammenarbeit, Freiraum, Diversität, inspirierende Arbeitsumgebung etc. Das ermöglicht auch den langjährigen Mitarbeitern, die Startups zu akzeptieren und zu fördern. Das ist nötig, denn die Startup-Initiativen sollen einen zukünftigen, noch ungewissen Erfolg bringen – die aktuelle Belegschaft erwirtschaftet den heutigen Erfolg. Die geschickte Verbindung beider Welten ist der Schlüssel. 

Weil Startup-Kultur dazu führt, den Kunden noch passendere Produkte und Services anzubieten, den Mitarbeitern eine inspirierende Arbeitswelt zu ermöglichen und erfolgreiche Unternehmen zu entwickeln, habe ich bei meiner Wette das gute Gefühl, dass Sie auch in 5 Jahren mit großartigen Innovationen Märkte gestalten werden.